Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung

Dr. Rainer Haas

Stadtwaldstr. 45a, D-35037 Marburg, Tel.: 06421/93084, Fax: 06421/93073

email: haasr@gmx.net



Chemisches Verhalten und humantoxikologische Bedeutung von Diphenylarsinverbindungen.

2. Humantoxikologische Bedeutung


Rainer Haas

Büro für Altlastenerkundung und Umweltforschung, Stadtwaldstraße 45a, D-35037 Marburg

Zusammenfassung

In Modellreaktionen wurde das chemische Verhalten von Diphenylarsinverbindungen gegenüber Aminosäuren, Peptiden und potentiellen Thiol-haltigen Antidots untersucht. Toxische Effekte von Diphenylarsinverbindungen werden beschrieben und diskutiert. Es werden Substanzen, die als Antidots eingesetzt werden könnten, vorgestellt. An zwei Fallbeispielen aus der Nachkriegszeit werden die Folgen je einer CLARK- und Lewisit-Vergiftung dargestellt.

Schlagwörter:
Arsenverbindungen, Analytik, biochemische Reaktionen, Blaukreuzkampfstoffe, Diphenylarsinverbindungen, Enzymblockade, Rüstungsaltlasten, Toxikologie, Wirkungsmechanismus

Abstract

The chemical behaviour of diphenylarsenic compounds was investigated using model reactions with amino acids, peptides and possible antidots with thiol-groups. Toxic effects of diphenylarsenic compounds were described and discussed. Some chemical compounds, which could be used as antidots, are presented. Two poisonings with the chemical warfare agents CLARK and Lewisite are described.

Key words:
arsenicals, analysis, biochemical reactions, sternutators, diphenylarsenic compounds, enzymatic blockade, ammunition factories, toxicology, biological effects



1 Einleitung

Bezüglich der toxischen Wirkung von Diphenylarsinverbindungen sind Reaktionen mit Verbindungen, die OH- bzw. SH-Gruppen besitzen, von Bedeutung. Die Bindung an Enzyme und Proteine mit funktionellen SH-Gruppen wird postuliert. Die toxischen Wirkungen der Diphenylarsinverbindungen werden auf die damit verbundene Blockade der Enzyme und Proteine zurückgeführt [1,2]. Untersuchungsergebnisse zu physiologisch wichtigen Reaktionen von Diphenylarsinverbindungen mit SH-haltigen Enzymen bzw. Proteinen sind in der Literatur nicht beschrieben.

In Modellreaktionen wurde das Verhalten von Diphenylarsincyanid und Diphenylarsinchlorid gegenüber biochemisch relevanten Substanzen (Aminosäuren, Peptide) untersucht, um Prognosen für Interaktionen dieser Diphenylarsinverbindungen unter physiologischen Bedingungen abgeben zu können. Weiterhin wurden Substanzen mit potentieller Antidotwirkung untersucht.

Die aus der Literatur bekannten toxischen Wirkungen werden dargestellt. Aus den Literaturdaten und den Ergebnissen der eigenen Untersuchungen wird ein möglicher Wirkungsmechanismus der Diphenylarsinverbindungen vorgeschlagen.

Anhand von zwei Fallbeispielen aus der Nachkriegszeit werden Vergiftungsfälle mit arsenhaltigen Kampfstoffen, ausgelöst durch den Genuß CLARK-kontaminierten Wassers sowie sowie durch Lewisit aus einer Granate, dargestellt.



2 Biochemische Modellreaktionen

2.1 Experimenteller Teil

Als Referenzsubstanzen standen Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid zur Verfügung. Es wurden Stammlösungen (c = 5,0 mg/ml) in Methyl-t-butylether (MTBE) angesetzt. Die Stammlösungen sind bei -18°C mehrere Monate haltbar.

Die o.g. Diphenylarsinverbindungen wurden mit verschiedenen Substanzen umgesetzt. Die Konzentration an Diphenylarsinverbindungen wurde im Bereich von 100 µg/ml bis 1.000 µg/ml variiert. Diese Konzentrationen liegen mehr als zwei Zehnerpotenzen über der analytischen Nachweisgrenze, so daß auch Umsetzungsraten von mehr als 99% quantitativ verfolgt werden können.

Die Reaktionen wurden in Methanol (GC-Untersuchungen) bzw. Methanol/Wasser 1/1 (HPLC-Untersuchungen) als Reaktionsmedium durchgeführt. Die Reaktionspartner für die Diphenylarsinverbindungen wurden im Überschuß eingesetzt (c = 400 bis 2.000 µg/ml). Die Reaktionen wurden in 1,2 ml-Vials, Volumen der Reaktionslösung 0,5 ml, bei einer Temperatur von 20°C durchgeführt.

Zur kinetischen Verfolgung der Reaktionen und zur Quantifizierung der Edukte und Produkte wurden Gaschromatographie mit Elektroneneinfangdetektor (GC/ECD), Gaschromatographie mit Flammenionisationsdetektor (GC/FID) sowie zur Absicherung der Ergebnisse Hochdruckflüssigkeitschromatographie mit Diodenarraydetektor (HPLC/DAD) eingesetzt. Der Meßzyklus beträgt, abhängig von den Retentionszeiten der Produkte, 8 bis 20 Minuten.

Die Messungen wurden unter folgenden chromatographischen Bedingungen durchgeführt:

1) GC-Messungen:

Gaschromatograph: HP 5890 series II+ mit HP 7673 Autosampler; Säule: DB5-Kapillarsäule, Länge 30 m, Durchmesser 0,25 mm, Filmdicke 0,25 µm; Trägergas: Stickstoff; Detektor: Elektroneneinfangdetektor (ECD) und Flammenionisationsdetektor (FID); Säulentemperatur: 230°C isotherm; Detektortemperatur: 300°C; Injektortemperatur: 250°C; Injektionsvolumen: GC/ECD 1 µl bzw. 5 µl, GC/FID: 5 µl; Datenaufnahme: Gynkosoft v. 5.32.

2) HPLC-Messungen

HPLC-Pumpe M-480 mit Autosampler GINA 50 (Gynkotek); Säule: RP 18 Nucleosil 120, Länge 250 mm, Durchmesser 3 mm, Partikelgröße 5 µm; Eluent: Methanol/Wasser 50/50; Detektor: Diodenarraydetektor UVD 340 S; Wellenlängenbereich: 200-400 nm; Meßwellenlänge: 210 nm; Injektionsvolumen: 20 µl; Datenaufnahme: Gynkosoft v. 5.32.

Für die Untersuchungen von Aminosäuren, Peptiden, potentiellen Entgiftungsmitteln etc. wurden aufgrund der geringen Löslichkeiten in organischen Lösungsmitteln wäßrige Stammlösungen mit Methanol als Reaktionsmedium eingesetzt.

In wäßrig-methanolischen Lösungen reagieren Diphenylarsinverbindungen nahezu quantitativ in Minuten zu Diphenylarsinmethylether. Die Ergebnisse sind in [3] dargestellt.

Bei getesteten Substanzen, die mit Diphenyarsinverbindungen keine Reaktion eingehen, entsteht somit als Reaktionsprodukt Diphenylarsinmethylether, der mit GC/ECD, GC/FID und HPLC/DAD detektiert werden kann.

Bei erfolgter Umsetzung getesteter Substanzen mit Diphenylarsinverbindungen entsteht kein Diphenylarsinmethylether, da die Thioether-Verbindungen thermodynamisch stabiler als die Etherverbindungen sind [4]. Die Endprodukte wurden z.T. nicht detektiert. Diese nicht detektierbaren Diphenylarsin-Thioverbindungen wurden in einem weiteren Reaktionsschritt mit Ethanthiol bzw. Propanthiol umgesetzt. Es entstehen die entsprechenden Thioether, die gaschromatographisch detektierbar sind. Die Rückreaktion wurde kinetisch verfolgt und daraus Rückschlüsse auf die relativen Bindungsstärken gezogen.



2.2 Aminosäuren und Aminosäurederivate ohne funktionelle SH-Gruppen

Da Diphenylarsinverbindungen mit Wasser und Alkoholen umgesetzt werden [3,4], ist auch eine Reaktion mit funktionellen OH-Gruppen tragenden Aminosäuren und -derivaten denkbar. Folgende Substanzen wurden untersucht:

- die Aminosäuren Serin, Tryptophan und Tyrosin

- die Tyrosin-Derivate Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und L-DOPA

- das Tryptophan-Derivat Serotonin sowie

- Methionin (funktionelle Gruppe: CH3S-)

- Cystin (oxidiertes dimeres Cystein) und

- zur Kontrolle Glycin und Phenylalanin.

Bei allen Umsetzungsversuchen mit diesen Substanzen wurde als Reaktionsprodukt Diphenylarsinmethylether erhalten. Die Absicherung der Ergebnisse erfolgte über GC/ECD, GC/FID und HPLC/DAD.

Da Diphenylarsinmethylether von allen untersuchten Thioverbindungen schnell zu Thioethern umgesetzt wird, können Reaktionen von funktionellen OH-Gruppen tragenden Aminosäuren und Aminosäurederivaten im Hinblick auf die physiologischen Wirkungen der Diphenylarsinverbindungen nur eine untergeordnete Rolle spielen.



2.3 Physiologisch relevante Substanzen mit funktionellen SH-Gruppen

Folgende Substanzen wurden untersucht: die Aminosäure Cystein, das Cystein-Derivat Cysteamin und das Peptid Glutathion (Glu-Cys-Gly). Alle drei Substanzen reagieren mit Diphenylarsinchlorid, Diphenylarsincyanid und Diphenylarsinhydroxid. Bei den ersten Messungen, 3 Minuten nach Reaktionsbeginn, waren die genannten Diphenylarsinverbindungen nicht mehr nachweisbar. Diphenylarsinmethylether wurde nicht gebildet. Die entstandenen Thioether können weder gaschromatographisch noch mit HPLC detektiert werden.

Mit den durchgeführten Untersuchungen wurde im Modellversuch belegt, daß Diphenylarsinverbindungen schnell mit Cystein, Cysteamin und Glutathion reagieren. Da viele wichtige Enzyme und Proteine Cystein bzw. Cysteamin enthalten, können viele biochemische Reaktionen durch Diphenylarsinverbindungen beeinflußt werden.



2.4 Modellhafte Untersuchung potentieller Entgiftungsmittel

Als potentielle Entgiftungsmittel kommen theoretisch Monothiolverbindungen in Frage, die in der Lage sind, mit bereits bestehenden Cystein- bzw. Cysteamin-Diphenylarsin-Strukturen zu reagieren und somit die Inaktivierung der Enzyme bzw. Proteine aufzuheben und die ursprüngliche Struktur der Proteine wiederherzustellen.

In einer weiteren Versuchsreihe wurden die chromatographisch nicht detektierbaren Diphenylarsin-Thioether von Cystein, Cysteamin und Glutathion mit einem Überschuß an Ethanthiol dotiert. Es wird Diphenylarsin-ethanthioether gebildet. Nach einer Reaktionszeit von 4 h 40 min wurden folgende Umsetzungsraten erreicht: Glutathion-Thioether: 103%; Cystein-Thioether: 70,7% und Cystein-Thioether 89,4%.

Somit kann modellhaft gezeigt werden, daß die Diphenylarsin-Bindung an Cystein- und Cysteamin-Strukturen prinzipiell reversibel ist.

Da potentielle Entgiftungsmittel in wesentlich höheren Konzentrationen eingesetzt werden müssen als die erhaltene Dosis an Diphenylarsinverbindung, darf die zur Entgiftung eingesetzte Substanz nur gering toxisch wirken und sollte möglichst hydrophil sein, um eine schnelle Eliminierung zu gewährleisten.

Modellhaft wurde die Umsetzung von Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid mit DL-Mercaptobernsteinsäure (MBS), Natrium-2-mercaptoethansulfonat (MES) und Natrium-3-mercaptopropansulfonat (MPS) untersucht.

Nach einer Reaktionszeit von 3 bis 15 Minuten sind gaschromatographisch keine Ausgangssubstanzen mehr nachweisbar. Auch die Produkte können chromatographisch nicht detektiert werden. Es kann somit gezeigt werden, daß die o.g. Thioverbindungen schnell und quantitativ mit Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid umgesetzt werden und damit potentiell als Entgiftungsmittel dienen könnten.


3 Humantoxikologische Bedeutung

3.1 Akute und chronische toxische Effekte

Diphenylarsinverbindungen werden als Aerosole, gebunden an Partikel oder gelöst im Wasser, aufgenommen und resorbiert. Die Hauptaufnahmewege sind die Schleimhäute des Respirationstraktes sowie die Lungenalveolen. Hautresorption ist ebenfalls möglich.

Bereits in Konzentrationen von 0,01 mg/m3 (Diphenylarsincyanid) bzw. 0,1 mg/m3 (Diphenylarsinchlorid) Luft lösen Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid nach einer Latenzzeit von wenigen Sekunden bis Minuten starke Reizwirkungen auf die Schleimhäute des Nasen- und Rachenraumes aus. Bei Diphenylarsincyanid wird zusätzlich Augenreizung festgestellt. Die Latenzzeit sinkt mit steigender Konzentration an Diphenylarsinverbindung. Die Erträglichkeitsgrenze wird mit 0,25 mg/m3 Luft (Diphenylarsincyanid) bzw. 1 mg/m3 Luft (Diphenylarsinchlorid) angegeben [1].

Die Reizwirkung erstreckt sich nicht nur auf die direkt betroffenen Schleimhautbereiche, sondern greift in charakteristischer Weise auf die Nebenhöhlen über. Bei höheren Luftkonzentrationen oder längerer Einwirkungszeit sind auch die tieferen Atemwege betroffen [2,5,6].

Hustenreiz, Übelkeit, Erbrechen, Schwäche in den Beinen, Zittern am ganzen Körper, Schweißausbrüche, Schmerzen in allen Gliedern, Gelenken und Muskeln, Ohrendruck, Kiefer- und Zahnschmerzen, Stirnhöhlenschmerz bis zur vorübergehenden Blindheit, gesteigerter Tränenfluß, Atemnot auslösende starke retrosternale Schmerzen verbunden mit einer Angstpsychose treten als akute toxische Effekte auf [2,5,6,7].

Die akute Reizwirkung ist nachhaltig. Sie beginnt Sekunden bis eine Minute nach der Aufnahme, erreicht ihr Wirkungsmaximum, auch nach Entfernen der Vergifteteten aus dem kontaminierten Bereich, erst nach 5 bis 10 Minuten und klingt innerhalb von 1 bis 6 Stunden ab. Die Abklingzeit ist abhängig von der insgesamt aufgenommenen Menge an Diphenylarsinverbindung [2,5,6].

Auch neurotoxische Effekte wie Formicatio, Lähmungen der Extremitäten, Störungen des motorischen Nervensystems sowie Bewußtseinsverlust wurden beobachtet [1].

Bei Inhalation größerer Mengen wurden pathologische Veränderungen wie Bildung von Pseudomembranen sowie schwere Kapillarschädigungen beobachtet. Das Auftreten eines akuten toxischen Lungenödems mit tödlichem Ausgang ist möglich [8].

Hautkontakt führt zur Rötung, Schwellung und Entzündung der Haut. Die Verletzungen sind schmerzhaft und können einige Stunden andauern. In den betroffenen Hautbezirken tritt Blasenbildung auf. Die Heilungstendenz ist günstig, nekrotische Zerstörungen des tieferen Zellgewebes werden nur selten beobachtet. Nach Wochen bis Monaten können jedoch wiederholt in diesen Hautbezirken starke Schwellungen auftreten. Bindehautentzündungen kommen vor, heilen aber ebenfalls schnell ab [5,6,9].

Nach überstandener Kampfstoffvergiftung wurden anhaltende schwere Stoffwechselstörungen beobachtet, die von starker Abmagerung begleitet waren [10]. An die akuten toxischen Effekte schließen sich oft lang andauernde Funktionsstörungen an, die durch Infektionen verstärkt werden [6].
 

3.2 Fallbeispiele aus der Nachkriegszeit

Anhand von zwei Fallbeispielen wird aufgezeigt, daß auch heute noch eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit von Rückständen arsenhaltiger Kampfstoffe ausgehen kann.

Im Jahr 1958 verstarb in Ratingen eine Frau nach Genuß von Wasser aus dem eigenen Hausbrunnen. Nachforschungen ergaben, daß in den Jahren zwischen 1920 und 1925 in der Nähe einer Schrottfirma Blaukreuzkampfstoff vergraben wurde. Dieser Blaukreuzkampfstoff hatte sich in der wassergesättigten Bodenzone verbreitet und das Brunnenwasser kontaminiert. Chemische Untersuchungen ergaben, daß der Blaukreuzkampfstoff im Boden noch weitgehend unzersetzt vorlag [11,12].

Am 16.2.94 brachte der Geräteführer R. bei Aufräumarbeiten am Rheinufer mit der Schaufel seines Radladers einen Gegenstand zur Explosion [13]. Dem ca. 50 cm tiefen Explosionstrichter entstieg weißer Qualm mit knoblauchartigem/geranienartigem Geruch, der zäh an Gegenständen und der Körperoberfläche haften blieb. Der Geräteführer besichtigte die Explosionsstelle.

Nachdem sich bei ihm schnell Atemnot einstellte, entfernte sich R. von der Unfallstelle. Dabei stellten sich starke Muskelschmerzen ein. Nach einiger Zeit führte R. die Aufräumarbeiten am Unfallort fort. Nach zwei Stunden stellten sich erneut Muskelschmerzen ein, vier Stunden nach der Explosion zeigten sich weitere Symptome: Schwellung und Brennen der Lippen, Augenbrennen, Schluckbeschwerden, Überempfindlichkeit der Schleimhäute des Hals- und Rachenbereiches sowie Übelkeit und ein kurzer Ohnmachtsanfall. Ein Kollege, der sich in der Nähe des Explosionsortes befand, litt unter ähnlichen Symptomen.

In der Nacht traten bei R. folgende Symptome auf: Übelkeit, Erbrechen, Schüttelfrost und kalte Unterschenkel; am nächsten Tag Kopfschmerzen, Augenbrennen und brennendem Schmerz im Bereich der Speiseröhre und der Bauchdecken. Der konsultierte Arzt äußerte den Verdacht auf eine inhalative toxische Erkrankung. Er stellte Herzrhythmusstörungen fest.

Fünf Tage nach der Explosion nahm der Geräteführer die Arbeit wieder auf. Nach Warmlaufen des Motors des Radladers trat erneut der knoblauchartige/geranienartige Geruch auf. Während der vierstündigen Arbeitszeit mußte er ständig Erbrechen. An den Händen und im Gesicht waren starke Hautreizungen feststellbar.

Außer den oben geschilderten Symptomen traten in den nächsten Wochen folgende weitere Symptome auf, die z.T. bis heute andauern: Magenschmerzen, starker Durst, starke Heiserkeit, Nierenschmerzen, dunkel verfärbter Urin, braune Pigmentierungen am Oberkörper und den Oberschenkeln, Flattern der Augenlider, Gelbverfärbung der Augäpfel, Sehstörungen in Form von Gesichtsfeldeinschränkung sowie Störungen des Kurzzeitgedächtnisses.

Ein Umweltmediziner stellte die Diagnose einer gewerblichen Arsenintoxikation. Die akuten und chronischen Effekte sowie der charakteristische Geruch des ausströmenden Qualmes deuten auf eine Vergiftung mit dem chemischen Kampfstoff Lewisit, einer Chlorvinylarsinverbindung hin.

Sechs weitere Kollegen von R., die sich in der Nähe der Explosionsstelle aufhielten, leiden chronisch unter ähnlichen Symptomen wie R., zwei von Ihnen mußten vorzeitig in Ruhestand gehen.

Die zuständige Berufsgenossenschaft lehnt die Anerkennung als Arbeitsunfall ab. Die Kosten der Heilbehandlungen trägt R. zur Zeit selber.


3.3 Wirkungsmechanismus

Der Wirkungsmechanismus der Diphenylarsinverbindungen ist nicht vollständig geklärt. Nach FLURY steht eine Schädigung wichtiger Enzymsysteme im Vordergrund. Versuche ergaben, daß Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid in einer Konzentration von 1 mg/l eine Hemmung der Katalaseaktivität von Rinderblut bewirken. Bei niedrigeren Konzentrationen bis 20 µg/l wurde jedoch eine Beschleunigung der Katalaseaktivität beobachtet [6].

MUNTSCH führt die beobachteten toxischen Effekte auf eine Schädigung des Gewebes und der Zellen sowie der Kapillaren und der Nerven zurück [5].

MUNTSCH geht aufgrund der beobachteten toxischen Effekte davon aus, daß nach Aufnahme von Diphenylarsinverbindungen im Körper eine Umwandlung in anorganisches Arsen stattfindet [5]. Diese Interpretation wird jedoch vom Autor angezweifelt.



Es wird folgender Wirkungsmechanismus vorgeschlagen:

Nach Aufnahme als Aerosol erfolgt zunächst in den unmittelbar betroffenen Bezirken (Schleimhäute des Nasen- und Rachenbereiches) eine Adsorption der Aerosole. Diphenylarsinchlorid bzw. Diphenylarsincyanid unterliegen auf den Schleimhäuten bzw. in den Lungenalveolen einer schnellen Hydrolyse zu Diphenylarsinhydroxid unter Freisetzung von HCl bzw. HCN. Diese geringen Mengen an HCl bzw. HCN können auch unter Berücksichtigung der extrem niedrigen Reizschwellen für die starke Reizwirkung nicht oder nicht allein verantwortlich sein.

Diphenylarsinhydroxid besitzt nur eine geringe Wasserlöslichkeit. Die Lipidlöslichkeit ist wahrscheinlich hoch, so daß eine schnelle Resorption erwartet wird.

Gelangen Diphenylarsinverbindungen in den Magen, reagieren im dort vorliegenden salzsauren Milieu Diphenylarsincyanid und Diphenylarsinhydroxid zu Diphenylarsinchlorid. Durch die Reizung der Magenschleimhäute kommt es schnell zu Übelkeit und Erbrechen, eine Resorption in angrenzendes Gewebe ist nur in geringem Umfang zu erwarten.

Diphenylarsinverbindungen reagieren mit thiolhaltigen Substanzen zu Thioethern. Verantwortlich für die toxischen Effekte ist eine Enzymblockade bzw. Bindung an Strukturproteine durch Bildung einer relativ stabilen Diphenylarsin-cystein-thioether- bzw. Diphenylarsin-cysteamin-thioether-Struktur.

Primärer Wirkort für Diphenylarsinverbindungen sind demnach intrazelluläre Enzyme, die durch Reaktion mit Diphenylarsinverbindungen inaktiviert werden. Durch die Inaktivierung von Enzymen des Intermediär-Stoffwechsels kann es sehr schnell zu nachhaltigen Störungen auf zellulärer Ebene kommen.

Potentiell betroffen sind somit alle Enzymsysteme und Strukturproteine, die Cystein- oder Cysteamin-Gruppen als reaktive Komponenten enthalten.

Die Zeit nach der Intoxikation bis zum Erreichen des Wirkungsmaximums von 5 bis 10 Minuten liegt in dem für Hydrolyse, Resorption und Enzymhemmung durch Thioether-Bildung nach den durchgeführten kinetischen Modelluntersuchungen erwarteten Zeitrahmen. Diese charakteristische mengenunabhängige Zeit bis zum Erreichen des Wirkungsmaximums läßt den Schluß zu, daß die akuten toxischen Wirkungen erst nach Resorption und nicht durch Kontakt mit der Oberfläche der Schleimhäute stattfinden.

Die Ursache der starken Reizwirkungen ist bisher nicht geklärt. Aufgrund ihres schnellen Auftretens ist zu vermuten, daß Diphenylarsinverbindungen auf die Enden der sensiblen Nerven einwirken. Neben der Bildung von Cystein- bzw. Cysteamin-Diphenylarsin-Strukturen ist auch eine direkte Einwirkung auf die Rezeptoren aufgrund von strukturellen Ähnlichkeiten denkbar.

Die beobachteten neurotoxischen Effekte wie motorische Störungen, Formicatio, vorübergehende Lähmungen der Extremitäten, Benommenheit und Bewußtlosigkeit treten nach Resorption und Verteilung der Diphenylarsinverbindungen im Organismus auf.

Die nach der Resorption von Diphenylarsinverbindungen über die Haut beobachteten Effekte lassen folgenden Wirkungsmechanismus plausibel erscheinen:

Organische Arsenverbindungen mit zwei reaktionsfähigen Valenzen wie z.B. Phenylarsindichlorid und 2-Chlorvinylarsindichlorid (Lewisit), die zur Gruppe der Hautkampfstoffe gehören, wurden intensiv untersucht, da diese Substanzen als chemische Kampfstoffe auch heute noch von Bedeutung sind. STOCKEN und THOMPSON postulierten die Bildung stabiler Fünf- bzw. Sechsringe bei der Reaktion dieser Verbindungen mit Proteinen, die zwei funktionelle SH-Gruppen tragen, z.B. mit der reduzierten proteingebundenen Liponsäure [1].

Bei Diphenylarsinverbindungen mit einer freien Valenz können die Fünf- bzw. Sechsringe nicht gebildet werden. Eine Reaktion mit Proteinen, die in 1,2-Stellung bzw. 1,3-Stellung funktionelle SH-Gruppen tragen, führt zu labileren Verbindungen. Aus diesem Grund sind Hautschädigungen durch Diphenylarsinverbindungen nur gering und zeigen gute Heilungstendenz.

Dennoch eintretende Verletzungen der Haut sind sehr schmerzhaft. Dies spricht, wie bei den akuten Reizwirkungen der Schleimhautbereiche, für eine Einwirkung der Diphenylarsinverbindungen auf die Nervenenden. Die oft beobachtete lang anhaltende Überempfindlichkeit der betroffenen Hautbezirke läßt den Schluß zu, daß Diphenylarsinverbindungen nach Resorption eine lange Verweildauer im Körper besitzen.



4 Vorschlag für potentielle Entgiftungsmittel

Für Diphenylarsinverbindungen sind bisher keine spezifischen Entgiftungsmittel bekannt.

Bei akuten Vergiftungen wird eine symptomatische Behandlung der Reizerscheinungen vorgeschlagen [1,5,14]:

a) Einatmen von Chlorkalkpulver

b) Inhalation von Wasserdämpfen mit Zusatz von Menthol oder Eukalyptusöl

c) Inhalation eines Gemisches aus 40% Ethanol, 40% Chloroform, 15% Ether und 5% Ammoniak

d) Inhalation einer Kombination mehrerer Pharmaka (z.B. ätherische Öle, Antihistaminika, Antibiotika, Kortikosteroide, Sympathomimetika).

Ätherische Öle, Antihistaminika, Chloroform und Ether mindern die Reizwirkung aufgrund lokalanästhetischer Effekte. Kortikosteroide und Sympathomimetika wirken der Schleimhautanschwellung entgegen und verringern die Membrandurchlässigkeit. Durch Riechen an Chlordämpfen bzw. Chlorkalkpulver werden auf den Schleimhäuten vorhandene Diphenylarsinverbindungen zu Diphenylarsonverbindungen oxidiert, die keine Reizwirkung mehr besitzen. Alkohole und Ammoniak reagieren mit Diphenylarsincyanid, -chlorid und -hydroxid in einer Substitutionsreaktion unter Bildung von Diphenylarsinether (Alkohole) bzw. Diphenylarsinimid (Ammoniak). Diese Substitutionsprodukte sind jedoch ebenfalls stark toxisch.

Bei Vergiftungen des Magen-Darm-Traktes werden zur Therapie Brechmittel, Abführmittel und Aktivkohle vorgeschlagen [5].

Augenreizungen werden mit 2 bis 3%iger Natriumbicarbonatlösung, Lokalanästhetika sowie zur Vorbeugung bakterieller Infektionen mit Antibiotika behandelt [1,7].

Zur Entgiftung betroffener Hautbezirke werden Waschen mit Chlorkalklösung (Oxidation von Diphenylarsin- zu Diphenylarsonverbindungen) bzw. Natriumsulfid (Substitutionsreaktion, Bildung von Bis(diphenylarsin)-sulfid) empfohlen [14].

Bei schweren akuten Vergiftungen werden als Antidote dieselben Substanzen wie für Phenylarsinverbindungen und Lewisite (Hautkampfstoffe) vorgeschlagen [1]. Dies kann jedoch aufgrund der strukturellen Unterschiede für Diphenylarsinverbindungen nicht die optimale Lösung sein, wie im folgenden dargelegt wird.

Dithiolverbindungen wie z.B. 2,3-Dimercaptopropanol (BAL, British-Anti-Lewisite) sind in der Lage, die mit organischen Arsenverbindungen mit zwei freien Valenzen wie Lewisiten und Phenylarsindichlorid gebildeten Ringstrukturen mit der proteingebundenen reduzierten Liponsäure aufzuheben [1]. Aufgrund der hohen Eigentoxizität von BAL und der geringen Wasserlöslichkeit besitzt heute als Entgiftungsmittel für die o.g. Hautkampfstoffe das geringer toxische und hydrophilere BAL-Derivat Natrium-2,3-dimercaptopropan-1-sulfonat (DMPS) größere Bedeutung. Im Tierversuch erwies sich 2,3-Dimercaptobernsteinsäure ebenfalls als wirksam. Durch Monothiolverbindungen wie z.B. Glutathion wird die Kampfstoff-Protein-Bindung nicht aufgehoben [1].

In eigenen Modellversuchen wurde bestätigt, daß nach Umsetzung von Phenylarsinoxid mit 2,3-Dimercaptopropanol (BAL) das gebildete Phenylarsin-BAL von im Überschuß eingesetzten Monothiolen wie Glutathion, Cystein, Cysteamin, D,L-Mercaptobernsteinsäure, Natrium-2-mercaptoethansulfonat und Natrium-3-mercaptopropansulfonat sowie Ethanthiol und Propanthiol nicht zu den entsprechenden Phenylarsin-Monothiol-Derivaten umgesetzt wurde und somit die thermodynamisch stabilere Verbindung ist.

Über chemische Reaktionen und toxikologische Bedeutung von Phenylarsinverbindungen wird in dieser Zeitschrift zu einem späteren Zeitpunkt berichtet.

Als potentielle Entgiftungsmittel für Diphenylarsinverbindungen mit nur einer freien Valenz kommen somit Monothiolverbindungen in Frage, die eine geringe Eigentoxizität und hohe Wasserlöslichkeit besitzen. Ferner muß die Substanz bereits bestehende Cystein- bzw. Cysteamin-Diphenylarsin-Bindungen und damit die Enzymblockade aufheben.

Potentielle spezifische Entgiftungsmittel wären z.B. DL-Mercaptobernsteinsäure oder Monomercaptosulfonsäuren, bei denen eine schnelle quantitative Umsetzung mit Diphenylarsinchlorid und Diphenylarsincyanid nachgewiesen wurde.



5 Ausblick

Mit den durchgeführten Modellversuchen kann gezeigt werden, daß der zentrale Aspekt der toxischen Wirkungen der Diphenylarsinverbindungen die Bindung an Strukturproteine bzw. Enzyme, welche Cystein oder Cysteamin als aktive Komponenten enthalten, darstellt. Es wurde festgestellt, daß die Diphenylarsin-Cystein- bzw. Diphenylarsin-Cysteamin-Bindung reversibel ist und durch im Überschuß vorliegende SH-haltige Substanzen wie z.B. Ethanthiol aufgehoben werden kann. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse können weiterführende Untersuchungen durchgeführt werden. Hierzu gehören z.B.:

- Entwicklung eines HPLC-Analyseverfahrens zum quantitativen Nachweis von Diphenylarsin-Cysteamin-, -Cystein- und -Glutathion-Thioether

- Durchführung von Untersuchungen zur Enzymhemmung durch die Ausgangssubstanzen und Umwandlungsprodukte sowie

- Untersuchung weiterer geeigneter Substanzen im Hinblick auf die Eignung als Entgiftungsmittel für Diphenylarsinverbindungen nach erfolgter Resorption.



6 Literatur

[1] Klimmek, R., Szinicz, L., Weger, N.: Chemische Gifte und Kampfstoffe. Stuttgart 1983

[2] Lohs, Kh.: Synthetische Gifte. Berlin 1974

[3] Haas, R.: Chemische Reaktionen von Phenylarsinverbindungen. 1. Umsetzung mit Alkoholen zu Diphenylarsinethern. UWSF-Z. Umweltchem. Ökotox. 8 (1996), 183

[4] Haas, R.: Blaukreuzkampfstoffe. Chemisches Verhalten und humantoxikologische Bedeutung von Diphenylarsinverbindungen. 1. Chemische Reaktionen. Umweltmed. Forsch. Prax. 1 (1996), 183-189

[5] Muntsch, O.: Leitfaden der Pathologie und Therapie der Kampfstofferkrankungen. Leipzig 1939

[6] Flury, F.: Über Kampfgasvergiftungen. IX. Lokal reizende Arsenverbindungen. Z. ges. exp. Med. 13 (1921), 523-578

[7] Gillert, E.: Die Kampfstofferkrankungen. Berlin, Wien 1938

[8] Gellermann, G.W.: Der Krieg, der nicht stattfand. Koblenz 1986

[9] Büscher, H.: Giftgas? und Wir?. Leipzig 1937

[10] Meyer, J.: Der Gaskampf und die chemischen Kampfstoffe. Leipzig 1938

[11] Frankfurter Rundschau: Gasgranaten vergiften Brunnen. Eine Frau starb/Blaukreuzkampfstoff aus dem ersten Weltkrieg. Artikel vom 6.2.58

[12] Frankfurter Rundschau: Wohin mit zehn Tonnen Arsen? Gefährliches Weltkriegerbe für Ratingen/Eine Frau mußte sterben. Artikel vom 13.3.58

[13] persönliche Aufzeichnungen der Krankheitsgeschichte des Geräteführers R.

[14] König, W.: Chemische Kampfstoffe. Wirkung auf den Organismus. Erste Hilfe. Berlin 1968


Weiterführende Informationen zu diesem Thema können per email (haasr@gmx.net)
angefordert werden.


Grundlage dieses Beitrages sind folgende Publikationen:

R. Haas:
Blaukreuzkampfstoffe. Chemisches Verhalten und humantoxikologische Bedeutung von Diphenylarsinverbindungen
1. Chemische Reaktionen
Umweltmed Forsch Prax 1 (1996), 183 - 189

R. Haas:
Blaukreuzkampfstoffe. Chemisches Verhalten und humantoxikologische Bedeutung von Diphenylarsinverbindungen
2. Humantoxikologische Bedeutung
Umweltmed Forsch Prax 2 (1997), 11 - 16


Herausgeber von Umweltmed Forsch Prax ist der ecomed-Verlag, Rudolf-Diesel-Str. 3, D-8689 Landsberg (http://www.ecomed.de/journals.htm)



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